Arbeitswild – ein Beitrag zur Diskussion

Es handelt sich um keinen Tippfehler, noch nicht einmal um ein Substantiv. Gemeint ist: arbeitswild im Sinne des ureigenen Antriebes, der uns Menschen dazu bringt, eine Aufgabe verrichten zu wollen, kurz gesagt: anpacken zu wollen, gerne etwas zu tun zu haben. In der derzeitigen Gemengelage im Bereich der Arbeitswelt ist dieser Aspekt möglicherweise in der Diskussion um Selbstverwirklichung, Purpose und Homeoffice-Tage untergegangen. Oder ist das Wild-sein auf Arbeit und Aufgaben durch Aussterben bedroht im entfernten Zusammenhang mit dem Personal- und Fachkräftemangel?

Das wissen wir nicht. Es geht auch nicht darum, obige Aspekte abzulehnen, blind zuzustimmen, einseitig zu betrachten oder ein Entweder-Oder zu erzeugen. Vielmehr sollte es wie so oft um den Gesamtkontext und die Nützlichkeit gehen und dazu hier ein paar Gedanken.

Wildwechsel

Wenn es um (Arbeits-) Motivation geht, spielen neben Werten und sonstigen Anreizen die Antreiber eine Rolle. Gemeint sind innere Bestrebungen, die uns einen bestimmten Fokus für unser Handeln setzen lassen. Nehmen wir an, Menschen verfügen über ausreichend inneren Antrieb, wollen arbeiten, sich aus- und weiterbilden und zu Fachkräften entwickeln. Das würde bedeuten, es gäbe irgendwo Bewerber:innen um qualifizierte Arbeitsplätze. Demgegenüber stehen – neben sonstigen Hürden – Bewerbungsprozesse, die in ihrer digitalen Form oft hochgradig entpersonalisiert sind und damit demotivierend.

Hier wäre Design Thinking ein möglicher Ansatz, um einmal der Frage nachzugehen, was es bräuchte, um dies für Unternehmen als auch für Bewerber:innen respektvoller und zielführender zu gestalten. Dann gäbe es möglicherweise mehr Matches und weniger Bubble (im Sinne von Streuverlusten) in diesem Prozedere. Es ist selbstverständlich nicht so simpel und es gibt Berufszweige in denen der Nachwuchs tatsächlich und drastisch fehlt, dennoch wäre es zumindest ein erster Ansatz für einen notwendigen arbeitsweltlichen Haltungswechsel statt Wildwechsel für Bereiche, in denen da draußen durchaus Menschen sind, die wild auf Arbeit und Herausforderung sind.

Wilde Philosophie

Kommen wir zur Selbstverwirklichung als mittlerweile postuliertem Anspruch am Arbeitsplatz. Konstruktivistisch betrachtet müsste hier zunächst geklärt werden, was das Selbst ist und wann von seiner Verwirklichung gesprochen werden kann. Ein Selbst als Figur entsteht durch Unterschiedsbildung vor einem Hintergrund, folglich existiert es nur im Kontext. Das bedeutet, bei der Selbstverwirklichung müssen Kontext und Dynamik berücksichtigt werden, denn eine Betonung des Einen erzeugt Unschärfe im Anderen. Die Frage ist, ob dies bei der Suche nach Selbstverwirklichung mitgedacht wird?

Unternehmen berichten, Mitarbeiter:innen würden bei Befragungen als Veränderungswunsch Selbstverwirklichung angeben. Ratlos sei man nun, was das konkret bedeute. Das Problem könnte darin liegen, dass der Begriff sozusagen ent-kontextualisiert verwendet wird und Arbeitsgeber mit dieser doch sehr philosophischen Frage schlicht überfordert werden. Hat sich das schon einmal jemand überlegt? Vorschlag zur Güte: Kontext schaffen, konkret werden. Welche Aufgaben liegen mir, was korrespondiert mit meinen Werten? Selbstverwirklichung ist wunderbar, nur so ganz allein und frei schwebend einfach un-begrifflich und zu wild, als dass sie in dieser Form für die Arbeit domestiziert werden könnte.

Wildwuchs

Und was ist mit dem Purpose, also Sinn? Seit langem Leitüberschrift vieler Fachartikel und Untersuchungsgegenstand im Zusammenhang mit Führungshandeln? Führungskräfte sollen Sinn stiften am Arbeitsplatz. Hier stellen sich, konstruktivistisch gesehen, gleich mehrere  Fragen: was ist das, für wen und in welcher Form? Hier sind sowohl Erwartungsexplosion bei Mitarbeitenden als auch Umsetzungsüberforderung bei Führungskräften im Lieferumfang enthalten, wenn diese Begriffe nicht in den (sinnvollen) Kontext gesetzt und für diesen definiert werden. Das bedeutet auch, konkret zu werden, um Handlungen daraus ableiten zu können.

Zunächst ein Gedanke dazu aus dem Zen: „Das Geheimnis ist: es gibt kein Geheimnis. Alles ist genau das, was es zu sein scheint. Dies hier ist es! Es gibt keinen verborgenen Sinn. […] der einzige Sinn, den unser Leben hat, ist der, den wir selbst ihm geben.“[1] Basierend auf diesen Gedanken bestimmte jeder selbst den Sinn, folglich wäre es ein paradoxer Auftrag an eine Führungskraft, Sinn für andere zu erzeugen. Was aber stattdessen?

Unternehmen haben Werte und Ziele und dementsprechende Strategien überlegt, um diese zu erreichen. Es bedarf der permanenten Überprüfung und Anpassung, dennoch gibt es einen ungefähren Kurs. Der Sinn könnte sein, diesem Kurs zu folgen. Bis zur nächsten Reflexionsschleife. Dann wäre die geforderte Sinnstiftung durch die Führungskraft bzw. das Unternehmen eher eine gelungene Übersetzungsleistung der Vision, der damit verbundenen Werte und der Mission, um alle Beteiligten gut einzubinden und dabei zu haben auf diesem Kurs. Und zuzuhören, wenn Mitarbeitende sinn-volle Ideen zur Kursgestaltung einbringen. Quasi als willkommene Graswurzelinitiative mit Wildblumenanteil.

Schutz der Wildnis

Kommen wir zur Homeoffice-Debatte. These: Im Grundsatz geht es die Erhaltung der Unternehmenskultur durch Präsenz. Hypothese: es geht auch um die Leitunterscheidung Vertrauen – Kontrolle. Es gibt natürlich Arbeitsplätze, für die Homeoffice einfach keine Alternative ist, da Präsenz unumgänglich ist. Oder gibt es gar schon Überlegungen, Teile großer Produktionsstraßen oder Krankenbetten in Wohnzimmerecken von Angestellten aufzubauen?

Zurück zu den Arbeitsplätzen, für die Homeoffice eine deutliche Alternative ist, da die Arbeitsleistung auch auf Distanz erbracht werden kann. Debattiert wird über die Anteile und Frequenz von Homeoffice und es gibt gute Argumente beider Seiten: Erhalt des Gemeinschaftsgefühls unter den Mitarbeiter:innen einerseits, Erhalt des Zeitvorteils und Nutzen für das Privatleben andererseits. Wenn es darum geht, wer gewinnt, verlieren alle. So kommen wir also nicht weiter. Es bräuchte ein multiperspektivisches Vorgehen, eine bunt gemischte Gruppe, die dies im jeweiligen Unternehmen untersuchte und eine hilfreiche Organisationsentwicklung initialisierte, um sowohl die Unternehmenskultur zu erhalten als auch die Ermöglichung zu leben. Es gibt wie so oft keine Blaupause oder Quote, es hängt vom individuellen Kontext und den Menschen ab.

Generell könnten solche Überlegungen den Schieberegler in der Hier-Dort-Diskussion entlasten. Eingebundene Ermöglichung anstelle von teilweise zu beobachtender Rigidität, um die Aufmerksamkeit wieder auf den Sinn der Veranstaltung zu legen: die Arbeit erledigen. Und Punkt. Die Debatte wäre obsolet, es ginge ganz simpel um Ergebnisse und um angemessene und sinnvolle Präsenz zur Konzertierung der kollektiven Arbeitswildnis.

Wild bleiben

Als eine Vertreterin der systemischen Haltung an dieser Stelle der Hinweis: alles, was hier zu lesen ist, sind wilde Gedanken zu Themen, die in der Arbeitswelt gerade viel diskutiert werden. Es gäbe noch so viel mehr dazu zu überlegen, unzählige nicht berücksichtigte Aspekte. Sich zu trauen, die wilde Frage zu stellen: „Worum geht es, wenn es nicht mehr um die Aufgaben an sich geht und wie kommen wir in der Arbeitswelt angemessen arbeitswild weiter, um uns auf die Aufgaben konzentrieren zu können?

Das Thema ist komplex und zwischen Gulag und Freizeitpark ist noch jede Menge Platz, also Arbeitsplatz. Diesen gilt es mit kooperativer Haltung auf beiden Seiten des Verhandlungstisches zu gestalten, um wie wild an der gemeinsamen Sache zu arbeiten.

[1] Sheldon B. Kopp: Triffst du Buddha unterwegs…, 3. Auflage: Mai 2016, Fischer Verlag, Frankfurt/M, S. 174/175

Claudia Wessling, 4. August 2022

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