Dies ist eine Geschichte, die von A bis Z reicht: von Ablehnung bis Zuschreibung. Es ist die Geschichte von den Fehlern.
Die Fehler wuchsen in einer Gemeinschaft auf, in der es eine große Bedeutung hatte, was man tat. Die Aufgabe wurde sehr ernst genommen und mit Würde vollbracht, denn es galt als ehrenwert, andere auf etwas hinzuweisen. Stolz liefen die kleinen Fehler herum und strengten sich mächtig an, schließlich einmal zu großen Fehlern zu werden. Die großen Fehler sahen indessen liebevoll auf die kleinen Fehler und übten sich in Geduld, denn um ein wirklich guter Fehler zu werden, brauchte es eben seine Zeit.
Nach und nach wuchsen die Fehler heran und verließen ihre gewohnte Umgebung, um endlich völlig frei arbeiten zu können. Von den großen Fehlern hatten sie gelernt, dass man am besten klein anfange. Also versuchten sie es zunächst in der Schule. Dort mussten sie zu ihrem Erstaunen feststellen, dass man ihnen schon einen Namen gegeben hatte, obwohl man sie doch noch gar nicht kannte: sie wurden Fehlerteufel genannt und man rückte ihnen mit so etwas wie einem Swat-Kommando aus dem Mäppchen zu Leibe: dem Tinten-Killer. Es lief ihnen kalt den Rücken herunter, aber sie ließen sich nicht beirren und machten sich einen Riesenspaß daraus, unvermittelt aufzutauchen.
Fröhlich zogen sie weiter durch das Leben und mischten sich munter in jegliche Entscheidungen. Die beste Quote erzielten sie bei Jugendlichen. Die mochten sie am liebsten, denn sie verteidigten sie trotzig gegen jeden, der es auch nur wagte, davon zu sprechen. Das war so eine schöne Zeit, mit Trotz oder Schulterzucken fanden sie immer einen Platz und fühlten sich so richtig wohl. Doch je länger sie blieben, um so mehr mussten sie feststellen, dass eine neue Gefahr drohte: das Erwachsenwerden. Nun wurde es ernst und sie machten Bekanntschaft mit etwas, das sie fortan prägen, ja fast schon traumatisieren sollte: die Ablehnung. Plötzlich waren sie nicht mehr gesellschaftsfähig, ob im Studium, Beruf oder Zuhause. Nicht erwünscht. Und auch ohne Tinten-Killer-Kommando wurde es deutlich: mit roten Anmerkungen, Gebrülle von oben, Gestichel von der Seite oder Gemecker von vorne. Die Fehler waren groß, aber sie fingen an, sich zu ducken. Das verstanden sie nicht, was war denn plötzlich los? Wieso konnte keiner sehen, was für eine würdevolle Aufgabe sie übernommen hatten.
Die Fehler waren deprimiert und ratlos. Wie sollte es nur weitergehen, was sollte aus ihnen werden. Sie hatten gar schon vernommen, man dürfe sie auf keinen Fall machen, was sie komplett arbeitslos machte oder sie kämen am besten erst gar nicht vor, was am Ende totschweigen bedeute. Alles andere als gute Aussichten. So saßen die Fehler tagelang auf dem Sofa und schauten sich „Pleiten, Pech und Pannen“ an, um sich wenigstens ein bisschen aufzumuntern. Als auch das letzte Popcorn aufgegessen war, hatte plötzlich ein Fehler eine Idee. Es lag auf der Hand, man hatte es nur nicht sehen können bei der ganzen Irritation: wenn Fehler nicht gemacht werden dürften oder nicht vorkämen, dann könnte man sie, könnte man sie… ganz genau: unterstellen. Die anderen Fehler hielten den Atem an. Das war es, die super Geschäftsidee: Fehler würden fortan einfach zugeschrieben. Dann wäre es völlig egal, wie sie arbeiteten und ihre Aufgabe erfüllten, denn es läge an der Perspektive.
Das war der Moment, in dem die Fehler die Delegation erfanden und ihren großen Coup mit einer neuen Tüte Popcorn feierten. Nun hatten sie ihre Aufgabe weitergegeben an… einfach ALLE und machten sich ihr jahrelanges Image zunutze. Fehler wurden nicht mehr nur gemacht, der neue Level war: sie wurden zugeschrieben, meistens den…ANDEREN. Zufrieden lehnten sich die Fehler zurück und gewöhnten sich an ihre neue Arbeit im Untergrund. Das hatte was und so konnte es munter weiter gehen, denn der Plan ging wirklich gut auf und die Delegierten nahmen die Aufgabe der Fehlerzuschreibung ebenso ernst wie es die Fehler seinerzeit mit ihrer ursprünglichen Aufgabe getan hatten.
Bis der Tag kam, an dem das agile Arbeiten erfunden wurde. Die Fehler saßen noch träge herum und genossen ihre Funktion als Großunternehmer, als plötzlich viral ging, Fehler seien Teil des Prozesses. Verwirrt rieben sie sich die Augen, die vom vielen „Pleiten, Pech und Pannen“ gucken schon ganz klein geworden waren. Teil des Prozesses, was sollte das denn heißen? Der erste Fehler schaltete entschlossen den Fernseher aus und beschloss, das müsse man genauer untersuchen. Sie mischten sich – ganz wie in alten Zeiten – testweise unter die Abläufe eines Projektes. Was für ein Gefühl, das hatten sie lange nicht mehr erlebt! Aber tief im Inneren erinnerten sie sich, sie warteten darauf, dass sie bald vertrieben würden mit den bekannten Begleiterscheinungen und der bekannten Ablehnung. Dann lief ein Projekt völlig aus dem Ruder, es gab eine Versammlung, sogar im Stehen. Die Fehler wunderten sich und fürchteten, dass es dieses Mal besonders schlimm ausfallen werde. Vorsichtshalber zogen sie schon einmal die Köpfe ein. Aber was war das? Der Mensch, der den Fehler gefunden hatte, wurde gelobt von allen anderen. Was zum Fehlerteufel…? Um nicht einer Finte auf den Leim gegangen zu sein, probierten die Fehler weitere Projektverläufe. Und wieder dasselbe. Die Fehler wurden selbst schon ganz agil bei der Erkenntnis, dass sie eine neue Rolle bekommen hatten.
Und als sie nach einem wohlverdienten Projekt mit vielen Einsätzen und viel Lob nach Hause gingen, summte sie leise ihr neues Mantra „früher Fehler, früher Held, früher Fehler, früher Held“.
Claudia Wessling, 19. Februar 2023